09. Oktober 2015 | 10:10 Uhr
Lawinensymposium
Lawinen: Forschung widerlegt "Allgemeinwissen"
Alpinwissenschafter: "So etwas wie Standardlawinen gibt es nicht".
Die Forschung hat viele althergebrachte Annahmen und Regeln über die Entstehung von Lawinen widerlegt, erklärte der Alpinwissenschafter Walter Würtl. Doch die Datenlage über die Todesursachen der Verschütteten sei weiterhin schlecht, die Lawinenforschung in Österreich für ein Alpenland nicht adäquat vertreten, sagte er anlässlich eines Symposiums, das am 10. Oktober in Graz stattfindet.
"Das 'Allgemeinwissen' über die Lawinen war und ist nämlich in vielen Fällen falsch", so Würtl. Zum Beispiel habe man angenommen, dass in Hängen mit frischen Spuren von Tieren wie etwa Gämsen, Füchsen oder Steinböcken keine Lawinen abgehen. Wissenschafter konnten aber das Gegenteil nachweisen. Ebenso würde entgegen der üblichen Meinung der Abgang sogenannter Gleitschneelawinen - hier gerät die gesamte Schneedecke auf einem glatten, feuchten, meist grasbewachsenen Untergrund ins Rutschen - kaum mit der tageszeitlichen Erwärmung zusammenhängen.
Eine "recht schlüssige Vorstellung" haben die Forscher mittlerweile, was mit der Schneedecke beim Anbruch von Lawinen passiert, erklärte Würtl. "Ein Grundproblem ist aber, dass es nicht so etwas wie 'Standardlawinen' gibt, sondern das Zusammenspiel von vielen Wetter- und Geländefaktoren, und der stets anders aufgebauten Schichtung der Schneedecke immer ein extrem komplexes Bild ergeben, das noch dazu jeden Tag anders ist", sagte er. Derzeit würden sämtliche verfügbaren, modernen Methoden wie Computertomografie, Laser oder Satellitentechnologie eingesetzt, um den Lawinen komplett auf die Schliche zu kommen.
Obduktionen verbessern Datenlage
Intensiv untersucht werde auch von den Medizinern, wie es den Opfern einer Verschüttung ergeht. Hier sei es aber problematisch, dass die Datenlage vor allem zu den Todesopfern sehr dünn ist, meinte Würtl. "Natürlich stellt stets ein Arzt den Tod fest, aber wenn zum Beispiel nicht der Körper durchgefroren oder der Hals extrem nach hinten geknickt ist, wird in der Regel ein Erstickungstod festgestellt", sagte Würtl. Um evidenzbasierte Schlüsse zu den Todesursachen zu ziehen, seien Obduktionen bei möglichst jedem Lawinentoten nötig.
In jüngster Zeit hat sich aber herausgestellt, dass der Anteil der "mechanischen" Todesursachen größer ist als früher angenommen. Ein knappes Drittel der Lawinenopfer sterben an Verletzungen, etwa weil sie von Lawinen gegen Felsen geschleudert wurden. Bei etwa fünf Prozent ist der Tod Folge von gleichzeitig Sauerstoffmangel, einem Überangebot an CO2 und Auskühlung, erklärte Würtl. Erstickung sei mit 60 bis 65 Prozenten aber die häufigste Todesursache.
"Hier ist seit einiger Zeit bekannt, dass rund 90 Prozente der Verschütteten die ersten 18 Minuten überstehen, und es dann zu einem schnellen Abfall der Überlebenschancen kommt", sagte er. Diese Kurve sei aber anhand von Algorithmen erstellt worden und basiere nicht auf harten Daten, denn bei den meisten Opfern sei der genaue Todeszeitpunkt unbekannt. "Außerdem würde sie implizieren, dass die Retter 18 Minuten Zeit hätten, um einen Verschütteten auszugraben, doch es gibt auch das sogenannte schnelle Ersticken", so der Experte. Manche Personen konnten nach wenigen Minuten geborgen werden und waren bereits in dieser Zeit erstickt.
Längeres Überleben möglich
"Im vergangenen Jahr gab es aber wiederum eine 'Sensationsverschüttung', wo ein Oberösterreicher nach neun Stunden lebend geborgen werden konnte, obwohl er leicht bekleidet und die Lawine nass war, was eigentlich eine schlechte Prognose ist", erklärte Würtl. Dies zeige, dass man die Folgen einer Verschüttung schwer verallgemeinern könne und es gerechtfertigt ist, dass die Bergretter und Notfallmediziner auch nach längerer Zeit große Anstrengungen unternehmen, um ein Opfer zu suchen, bergen und versorgen.
Die Lawinenforschung sei in Österreich zerstreut und es gäbe keinen zentralen Ansprechpartner. "Vereine wie die Naturfreunde, der Alpenverein und das Kuratorium für alpine Sicherheit zeichnen vor allem für Strategien für die Tourengeher verantwortlich, die Lawinenwarndienste der Bundesländer leisten bei der Prävention und Warnung einen entscheidenden Beitrag, und etwa das Bundesforschungszentrum für Wald und die Stabsstelle der Wildbach-und Lawinenverbauung sind mit Großlawinen befasst, die Siedlungsräume bedrohen", erklärte er. Die universitäre Forschung sei in Österreich nicht in dem Maß vertreten, wie man es sich für ein alpines Land denken würde. Freilich gäbe es auch hier Wissenschafter und Institute, die Lawinenforschung betreiben, doch dies seien meist Einzelkämpfer mit Einzelaufträgen.
Die Entwicklung der technischen Ausrüstung würde man wiederum der Industrie überlassen. "Dementsprechend gibt es viele Produkte am Markt, die nicht auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen gefertigt sind, sondern eher aufgrund verkauftstechnischer Überlegungen", meint er. Rucksack-Airbagsysteme könnten aber die Überlebenschancen laut neuesten Erkenntnissen um rund 10 Prozente steigern und seien deshalb zu empfehlen. Sie würden freilich die Standardausrüstung im ungesicherten Gelände nicht ersetzen: Ein Verschüttetensuchgerät, Lawinenschaufel und -Sonde, sowie ein Mobiltelefon und Erste Hilfe Paket müsste jeder dabei haben.
Das "Internationale Lawinensymposium" wird von den Naturfreunden Österreich und der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) organisiert und findet mit öffentlichen Vorträgen und Diskussionen am 10.10. in Graz statt.